3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (Auszug) – Aus Liebe zur Natur (Teil 2)

Aus Liebe zur Natur (Teil 2)

»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage – Auszug)

Angewiesen auf seine Füße und 20 Kilogramm Gepäck plus Banjo auf dem Rücken schlug sich der Autor dieser Reisereportage drei Monate ohne Geld durch Europa – von Coswig in die Schweiz, nach Frankreich, England und Irland. Er erlebte Abenteuer, Entbehrungen und viele hilfreiche Menschen.

»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« - 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

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Noch immer schmecke ich die Guinness auf meiner Zunge. Waren es zu viele? Der Wirt hat gut verdient, glaube ich. Es beginnt zu nieseln, als ich die Straße stadtauswärts in südlicher Richtung einschlage. Ich sinniere. Wie spät ist es? Last Order war um 23 Uhr. Nach Mitternacht?

»Nichts geschehen«, schreibe ich einen Tag später, am 29. August, ins Tagebuch. »47 km an einem Tag, laut der mitgeführten Landkarte. Das grenzt schon an einen Gewaltmarsch. Mir bleibt keine Zeit nachzudenken. Kaum finde ich einen Moment, beschäftige ich mich damit, in welche Richtung ich weiter gehen werde. Ich denke an nichts. Auch wenn es kaum ein Mensch glauben kann. Menschen können zeitweise an nichts denken. Die Augen einfach schließen. Sterne tauchen auf. Das Bild verschwimmt. Es wird dunkel. Nichts.«

Oder war da doch etwas? Das Viehzeug in den Nächten, das mich peinigt. Es summt, krabbelt und knallt gegen die Zeltplane. Die Touristen, die ich sitzend auf dem Bürgersteig, beobachte. Sie schimpfen und schreien, als seien sie die Helden, überall. Freundlichkeit? Akzeptanz des anderen? Langsam verschwinden sie. Und in Deutschland gehen die Ferien bald zu Ende. Oder der Töpfer, der mich heute Morgen nach Grange, fünf Kilometer südlich von Kilkenny gelegen, in seinem Auto mitgenommen hat. Er lebt seit sieben Jahren in diesem Land.

Ursprünglich stammt er aus Halle. Fort wollte er, mit dem Staat, in dem er geboren wurde, war er unzufrieden, sagte er und von dem Neuen zu sehr enttäuscht. Die Iren nahmen ihn auf, und er mag ihre Gastfreundlichkeit und ihre Liebe zu den Menschen, die Lebenswelt, die einzig reale Welt in der wir leben, in der wir miteinander sprechen, uns einander die Hände schütteln, vielleicht in Liebe, vielleicht in Abneigung.

In Clonmel, malerisch an einer Flusslandschaft gelegen, erzählt mir eine Irin von einem 20 Kilometer langen Rundweg, um die sich im Süden erstreckenden Comeragh Mountains. Wunderbar sei der Weg und ausgeschildert, betont sie mehrmals. Aber ich möchte weiter, überquere den Fluss Suir. Die Straße schwingt sich durch die Landschaft, links und rechts liegen fruchtbare Felder, saftig grüne Weiden, kleine Gehöfte. In der Ferne zeichnen sich die schroffen Gebirgskegel der beinah 800 m hohen Knockmealdown Mountains auf. Und ich freue mich, dass es heute nicht regnet.

Als ich in Glogheen, einem kleinen Ort, ankomme, ist es bereits dunkel. Die Straße beginnt leicht zu steigen, und bald säumt sie ein Nadelholzwald. Noch ein paar Kilometer, denke ich, um ein ruhiges Plätzchen zu suchen. In Serpentinen windet sie sich bald den Berg hinauf. Ich entdecke einen Aussichtspunkt seitlich der Straße. Der Wald wird lichter.

The Vee nennen die Iren eine der schönsten Gebirgsstraßen ihres Landes. Und ich habe einen hübschen Platz in der Nacht. Langsam ziehe ich den Reißverschluss ein Stück weit auf, schiebe die Füße hinein und schließe den Schlafsack locker um die Hüften. Es ist gemütlich. Weich sitze ich auf den wenigen Sachen, die ich noch nicht am Körper trage. Einige Minuten verharre ich so, zufrieden, entspannt in einem Schwebezustand an der Grenze zur Träumerei.

Nur der Geruch gerösteter Kartoffeln holt mich zurück in die Wirklichkeit. Eigentlich mag ich keine Kartoffeln, vor allem keine Bratkartoffeln. Doch mit viel Fantasie bringt mich das Aroma der knusprigen Kartoffeln in Hochstimmung.

Ich denke daran, dass ich sie, vor einigen Kilometern auf einem im Tal gelegenem Feld, geerntet habe. Schon dieser Gedanke versetzt mich in einen Glückszustand. Ich erinnere mich an vergangene Abendessen, die Wärme des Lagerfeuers, das knacken im brennenden Holz, an entfernten Hügeln im Abendrot. An feuchte, dunkle Wälder, in denen das Licht des Lagerfeuers den Bäumen ein schemenhaftes Gesicht verlieh. Mit diesen lebhaften, unerwarteten Gedanken verschwinden die letzten Zweifel an den Sinn dieser Wanderung. Ich habe daraus eine eigene Kunst, eine Wissenschaft gemacht eine derartige Schule, der ich nie mehr zu entfliehen vermag. Und tief in mir brennt es nach dem einfachen Leben, der vergangenen beiden Monate und der verbleibenden Zeit.

Erst als ich zum dritten oder vierten Mal die Augen aufschlage, fühle ich es. Das Rauschen des Bergbaches, der gelassen vor sich hin plätschert. Nichts bringt mich aus der Ruhe.

Die Hektik, das Grübeln, die künstliche Aufgeregtheit daheim in Deutschland – weg. Alles liegt weit hinter mir.

Ich genehmige mir am Morgen ein Bad im Bach, der so klar wie ein Kristall ist. Selbst im Liegen bedeckt mich das eiskalte Wasser nicht. Die Tropfen perlen von meiner Haut, und mein Penis ist auf Nussgröße geschrumpft.

Ich springe hinaus und frottiere mich. Langsam sortiere ich die Sachen in den Rucksack und breche auf.

Immer höher steigt die Straße, niedrige Büsche und Flechtwerk haben den Wald abgelöst. Ungehindert schweift mein Blick über die Ebenen. Ein frischer Wind umspült mein Gesicht. Ich wandere langsam. Auf dem höchsten Punkt, 795 m über NN, der Knockmealdown Mountains lasse ich mich nieder, nippe ein wenig an der Trinkflasche, die ich mir gestern Abend mit frischem Tee aus Bachwasser abgefüllt habe. Und ich beschließe noch, eine weitere Nacht in diesen Wäldern zu verweilen. Doch vorerst ist das Land hier oben kahl. Natursteinmauern begrenzen die Felder und Weiden, Schafe grasen an den Straßenrändern und von Zeit zu Zeit hält ein Auto, Leute steigen aus, blicken in die Runde.

Wanderschuhe Wandern

»Ach, ist das schön«, seufzen sie, nehmen vielleicht noch einen Happen aus ihrem Vorratsbeutel, wenn das ihre Zeit erlaubt und setzen sich zurück in den Wagen. Die Fahrt geht wieder hinab ins Tal nach Lismore.

Auf meiner Karte finde ich die Mount Melleray Abbey eingezeichnet. Ich plane einen Umweg ein. Cork hat Zeit. Alles hat Zeit, nur nicht die wundervollen Momente in der Natur. Ich wandere hinüber, westlich meiner bisherigen Route, über mit Gras bedeckte Ebenen, kleine Bäche, vorbei an Steinmauern, die ich bereits vom Gipfel erkennen kann. Barfuß geht es wieder bergab und meine Schritte werden schneller. Neues gilt es zu entdecken.

Während einer Rast am Wegesrand stochere ich mit einem Zweig in einem Ameisenhaufen herum. Gleich strömt ein ganzes Rudel Soldatenameisen heran, die Bedrohung auszumerzen. Es raschelt im Haufen. Die Soldaten vereint zu einem schwarzen Teppich drücken gegen den Zweig. Ich fühle ihre Kraft, ziehe den Zweig hinaus. Unzählige Ameisen purzeln zu Boden. Einige kommen ihnen zu Hilfe. Der Sturz hat ihnen nicht geschadet, äußerlich zumindest, scheint mir. Anders als dem Haufen, ihrer Burg, ihrer Stadt, ihrem Haus, dort klafft jetzt ein großes Loch in der Decke. Der Haufen sackt zusammen. Wenige Zentimeter von der defekten Stelle entfernt hat sich das Rudel zum Rat getroffen und Sekunden später schwärmen sie aus. Flink legen sie Zentimeter um Zentimeter zurück und einige haben meine Füße bereits erreicht. Haben sie den Eindringling gefunden?

Beim Aufstehen kann ich die Mount Melleray Abbey schon erkennen. Und je näher ich komme, desto mehr steigt mir ein würziger Duft von gegrillten Bratwürsten in die Nase. 1833 wurde das Trappistenkloster in den Hügeln sieben Kilometer nördlich von Cappoquin erbaut.

Im Gästehaus sind Besucher. Mein Magen knurrt. Um einen Grill drängen sich eine Handvoll Menschen. Und etwas abseits klimpern zwei junge Männer auf ihren Gitarren. Sie spielen kein Lied, sie stimmen ihre Instrumente. Hannah, wie ich gleich erfahren soll, gibt den beiden Männern mit ihrer Whistle die Töne vor.

Ich trete näher. Die Bratwürste ziehen mich an. Und ohne eine Frage nach dem wohin, woher und wer ich bin, werde ich eingeladen, mit ihnen zusammen zu singen.

»Play your banjo«, sagt Hannah und reicht mir zur Stärkung eine Wurst. Der Nachmittag gestaltet sich angenehm, mit Witzen, die ich zunehmend besser verstehe, den Fragen über ein fremdes Land und reichlich Essen.

Hannah erkennt sofort mein Geburtsland Deutschland. »Wie gefällt es dir in Irland?«, fragt sie.

Ich antworte mit einem irischen Folksong. Die Zuhörer lachen.

»Das sagen die meisten Urlauber«, finden alle.

Also berichte ich von der Gastfreundlichkeit, die mir bisher begegnet ist, von der, die Besucher Irlands mir schon vor meinem ersten Aufenthalt erzählten, der berauschenden Landschaft und der Fußwanderung.

»3000 Kilometer? Warum machst du das? Abenteuerlust?«, fragt Hannah. Ihre Fragen purzeln nur so aus ihrem Mund.

»Well. Mir geht es nicht um Sensation, nicht um Publicity. Ich bin kein Abenteurer. Ich bin nur ein Mensch, der die Welt nicht im Jet und auf überfüllten Stränden erleben will. Ich glaube, es gibt in unserer Zeit noch viel Interessantes zu erleben. Ich brauche mich nur umzusehen.«

»Und wenn du überfallen wirst?«

»Risiko. Das gehe ich ein. Ich glaube, in der Großstadt gibt es sicher viel mehr davon, als ich hier in dieser wunderbaren oder irgendeiner unberührten Natur finden kann.«

»Lasst uns etwas spielen«, ruft einer der Jungs an den Gitarren. Und am späten Nachmittag, als mich der Drang nach Stille wieder einholt, ziehe ich weiter. Im Gepäck befinden sich jetzt zusätzlich zu einigen Kartoffeln und dem Kanten Brot, noch vier wunderbar schmeckende Grillwürste. Ich gehe bis meine Beine müde werden, folge den ausgetretenen Wegen zwischen den Steinmauern und bald der Landstraße. Es geht ins Tal hinab. Und kurz, bevor ich Lismore erreiche, tauche ich in einem dichten Laubwald in einen tiefen Schlaf.

mehr Informationen und Video zum Buch

Zu Fuß von Dresden nach Dublin: Leseprobe


»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

2. Auflage – Mai 2021 – 2. Auflage – ISBN: 978-3-7534-0206-2 – 408 Seiten – 103 s/w Fotografien – 13,90 Euro

»Dein Buch ›Zu Fuß von Dresden nach Dublin‹ kann man nur wärmstens empfehlen …«

(Reiner Meutsch – RPR1 Rheinland – Pfälzische Rundfunk)
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« - 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

3100 Kilometer legte Jan Balster zurück – auf Schusters Rappen, wie man so sagt. Vom Ufer der Elbe bis an den Atlantik, quer durch Westeuropa via Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Irland.
Das Besondere war nicht nur die Art des Reisens, sondern auch die Umstände: Jan Balster hatte keinen Euro in der Tasche.

Sein lebendiger, anschaulicher Bericht aus dem Jahr 1998 über eine ungewöhnliche Entdeckungstour ist mehr als nur Mitteilung über ein Abenteuer. Es ist auch eine überzeugende Einladung, mal über den deutschen Tellerrand zu schauen. Balster ermuntert und ermutigt mit seinem Beispiel, aus dem alltäglichen Trott auszubrechen. Dazu bedarf es keines gefüllten Kontos, sondern nur etwas Mut und Selbstvertrauen. Und Freunde finden sich überall, die einem weiterhelfen.

Der Mann widerlegt zwei Thesen. Erstens, dass man die Taschen voller Geld haben müsse, um die Welt zu entdecken. Und zweitens, dass es Abenteuer nur noch in der Arktis oder in Asien zu erleben gebe. Nein, man kann sie auch im Alten Europa bestehen.

Jan Balster bestätigt aber zugleich auch die These, dass Weltanschauung dadurch entsteht, dass man sich die Welt anschaut und mit Menschen spricht.

Der Mann ist quer durch Westeuropa marschiert. Er traf auf Deutsche, Schweizer, Franzosen, Briten und Iren. Er nächtigte im Straßengraben und auf Campingplätzen, in Obdachlosenasylen und in Jugendherbergen, in Scheunen und in Garagen. Er lebte vom Banjo-Spielen und vom Betteln, er verdiente sich Geld als Fahrradkurier in London und bei Gelegenheitsarbeiten. Er traf auf Hilfe und harte Zurückweisung, auf Zustimmung und auf Ablehnung.

Balster hat alles aufgeschrieben. Ohne Kommentar. Und zeigt, wie nah sich Menschen auf unserem Kontinent sind – und wie fern. Jan Balster kam klüger nach Hause, als er es zuvor war.

Der Leser ist es nach der Lektüre auch.


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