3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (Auszug) – Aus Liebe zur Natur (Teil 1)

Aus Liebe zur Natur (Teil 1)

»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage – Auszug)

Angewiesen auf seine Füße und 20 Kilogramm Gepäck plus Banjo auf dem Rücken schlug sich der Autor dieser Reisereportage drei Monate ohne Geld durch Europa – von Coswig in die Schweiz, nach Frankreich, England und Irland. Er erlebte Abenteuer, Entbehrungen und viele hilfreiche Menschen.

»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« - 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

Die Landschaft ist überwältigend schön, Grün in verschiedenen Tönen. Schafe weiden, ein Hund bellt und springt um die Herde herum, als wären es seine Spielgefährten. Der Schäfer zieht genüsslich an seiner Pfeife und lädt mich zum Frühstück ein. Ich bedanke mich höflich für das Mahl und verschwinde gesättigt im ständigen Auf und ab der Landstraße.

Wenig später kreuzte ich die Straße R 736. Ich habe mich niedergelegt, sauge den würzigen Duft des Grases in mich ein.

Meine Hand tastet auf dem Boden entlang. Was ist das? Ein harter, metallischer, runder Gegenstand gerät in meine Finger. Geld? Es funkelt in der Mittagssonne. Geld, der Gott der Menschen, denke ich. Das geht seit Menschengedenken. Können wir daran etwas ändern?

»Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon«, schreibt Matthäus in Kapitel 6, Vers 24. Aber das Geld kann dienen, sogar dem Guten? Dürfen wir deshalb aber dem Geld dienen? Jeder hat seinen Traum vom Reichwerden. Ob die Aktienkurse steigen oder ein tolles Cabriolet vor der Villa steht. Ich doch auch. Ich habe ihn doch auch, diesen Traum. Und ich betrachte das Stück, einen echten amerikanischen Dollar.

Dann bekomme ich eine Sauwut. Bilder von Herren die am liebsten Kontoauszüge lesen und Damen, die sich an diese Herren anschmiegen, schießen mir in den Kopf. Der Boden wird verdichtet, der Baum zum Hindernis. Und ich liebe die Bäume. Ich kann nicht leben, ohne den Trost der Bäume. Wissen wir, wie wichtig die Bäume sind für unser Leben?

Selbst am Abend beschäftigt mich noch immer dieser Gedanke. Die Zeit auf der Landstraße gibt mir die Gelegenheit. Ich bette mich wenige Kilometer von New Ross entfernt in einem Schober. Der Regen schlägt auf das Wellblechdach. Das Heu duftet. Ich bin eingetreten in eine Welt, die vom Wind, von der Sonne, vom Gelände beherrscht wird. Hier zählt nur der Rucksack auf meinem Rücken, das Sonnenlicht, die Luft zum Atmen. Und ich fühle mich so sorglos und geborgen wie selten zuvor.

Laotse beschilderte vor mehr als 2000 Jahren den Weg zu einer gesunden und friedlichen Gesellschaft; Erstens den Tüchtigen nicht bevorzugen, damit das Volk nicht streitet. Zweitens die Kostbarkeiten nicht schätzen, damit das Volk nicht stiehlt. Drittens nichts bemerkenswertes zeigen, damit das Herz nicht wirr wird. Thomas Hobbes beschrieb, wie der Mensch zu disziplinieren sei: durch die Furcht vor dem Tod, die Begierde nach den Dingen, die das Leben angenehm gestalten und die Hoffnung, sie durch fleißige Arbeit zu erreichen. Und Marx meinte in seinem Konzept über den Sozialismus, dass der Mensch dem Menschen zum Bedürfnis werden muss. Ihm geht es um die weitere Entwicklung der Totalität menschlicher Bedürfnisse. Dürfen wir über so etwas heute überhaupt noch nachdenken? Über Utopien? Über eine Ordnung ohne Leistungserfolg und Konkurrenzkampf? Ohne Streit zwischen Besitz und Eigentum, für eine gesunde Psyche.

Das morgendliche Treiben auf dem Feld rüttelt mich wach. Durch einen Spalt in der Tür erspähe ich einige Bauern, sie frühstücken. Mir bleibt also genügend Zeit meine Sachen zu packen und mich davonzustehlen.

»Ich möchte nach Kilkenny?«, frage ich eine ältere Frau, die trampend am Straßenrand steht.

Sie antwortet in Gälisch. Ich entschuldige mich und will mich abwenden, als sie mich in englischer Sprache fragt, ob ich gut geschlafen habe.

»Yes«, sage ich nur.

Mein Blick muss wohl sehr verwirrt ausgesehen haben. Sie packt mich am Arm, mit einem erstaunlich festen Griff und zieht mich einige Meter auf das Feld. »Setz dich?«, fordert sie.

Ich kauere mich auf den Rucksack. Ohne ein Wort zu sagen, packt sie ein halbes Brot und ein Stück Ziegenkäse aus. Wir schweigen und essen. Genießen den Wind, der uns umspült. Und als wir uns verabschieden – sie springt auf, als sie in der Ferne ein Motorengeräusch vernimmt –, sagt sie: »Ich habe gestern Abend Licht gesehen. Drüben in der Scheune.«

Sie kennt den Fahrer, die Wagentür schlägt zu, und sie ist verschwunden.

Bedanken kann ich mich nicht mehr für das Brot und den Käse. Ich setze meinen Weg fort. Die Häuser sehen aus wie spanische Haciendas mit einem kleinen Touch amerikanischer Südstaatenvillen, und Gärten laden zum Verweilen ein.

Noch, bevor ich weiter nach Kilkenny ziehe, nehme ich in Thomastown einen kleinen Abstecher zur wenigen Kilometern entfernten Jerpoint Abbey. Diese Zisterzienser-Abtei entstand zwischen den Jahren 1158 und 1180 in einem romanisch-gotischen Mischstil. Sie soll eine der schönsten irischen Abteien sein, meinen deren zahlreiche Besucher, der Kreuzgang mit den Skulpturen der Äbte, Ritter und Fabeltiere. Ein Blick auf den neuzeitlich gestalteten Eingangsbereich trübt mein Bild von der Abtei. Die Eintrittspreise erledigen das Übrige. Ich habe etwas anderes erwartet. So bleiben mir lediglich die Hochkreuze, die über die große Mauer hinausragen.

In Kilkenny. Ich brauche nicht durch die Stadt, der Zeltplatz liegt günstig. Und eine kostenfreie Dusche trägt zu meinem Wohlbefinden bei. Nach dem Zeltaufbau darf ich von dem restlichen Brot von heute Morgen zehren und den hübschen Sonnenuntergang über der Stadt Kilkenny bewundern. Die Silhouette verschwindet langsam, bis ich lediglich den Kirchturm der katholischen St. Mary’s Cathedral erkennen kann.

Ich bin früh aufgestanden. Noch habe ich die Straße für mich allein. Kilkenny, am Fuß der Slieverdagh Hills gelegen, verzaubert mich. Gibt es hier ausschließlich Pubs, frage ich mich. Rot, blau, grün, die gesamte erdenkliche Farbpalette wurde auf die Fassaden aufgetragen. Ab und an werfe ich einen Blick hinter die Häuser. Ich bin erstaunt. Gut erhalten, wenn ich den Vergleich zu Wexford wage.

Ich verliere mich in den Straßen und Gassen.

1204 wurde das Kastell im Auftrag des Normannen William de Marechal errichtet. Drei mächtige Rundtürme prägen seine Größe. Erst jetzt begann aus dem einstigen Königssitz der Herrscher von Ossory der wirtschaftliche Aufschwung. Und als im Jahre 1391 James Butler die Stadt unter seine Obhut nahm, wurde sie wichtiger als Dublin. Die Vertreter der englischen Krone residierten standesgemäß im Ort, es tagten sogar die Parlamente hier und brachten den Iren grausame Gesetze. Beispielsweise das »Statut von Kilkenny«, welches den anglo-normannischen Völkern verbot die irische Sprache zu gebrauchen, das Tragen der irischen Kleidung und die Annahme irischer Namen. Bald galt es sogar als Hochverrat, wenn irische Männer oder Frauen den Bund der Ehe eingingen, bis die irische Bevölkerung nicht mehr innerhalb ihrer eigenen Stadtmauern leben durfte.

Zwischen 1642 und 1648, es tobte gerade der Dreißigjährige Krieg, wurde die Stadt zum Zentrum des katholischen Widerstandes. Erst als 1650 Cromwells Truppen Kilkenny einnahmen, endete die Bedrückung der irischen Bevölkerung.

Ich gehe ziellos. Vielleicht finde ich ein Plätzchen, um ein wenig Geld einzuspielen. An der St. Mary’s Cathedral warten die Gläubigen auf den Gottesdienst. Die Kathedrale wurde von 1843 bis 1857 in der James Street erbaut und ist heute das Wahrzeichen der Stadt. Die Glocke schlägt allmorgendlich, klärt mich ein älterer Ire auf.

Er nimmt mich mit hinein, zeigt mir den wunderbaren Ausblick über die Stadt vom 65 m hohen Kirchturm und weist mich auf die verschiedenen katholischen Statuen hin.

»St. Patrick«, sagt er leise, »der Schutzpatron der grünen Insel.« Gern spricht er vom bekanntesten Heiligen der Iren, der um das Jahr 400 von irischen Piraten aus dem damals römischen Britannien nach Irland entführt wurde. Nach sechs Jahren gelang ihm die Flucht. Padraig, wie sein Name auf Gälisch lautet, begann eine Reise durch Europa.

»Aber er kehrte zurück«, erklärt der ältere Herr weiter. »Um 430 oder 431 etwa. Er war inzwischen Bischof geworden.« Er glaubt an die Vergebung. Und immerhin, die Iren haben im Verlauf ihrer Geschichte keine Eroberungskriege geführt. Aber wehe dem, der sich an ihrem Land vergreifen will.

Irland Kilkenny
Unterwegs in Kilkenny

Ich finde einen Platz, der Torbogen, der sich über die Gasse schwingt, ist ideal. Und wenige Minuten später stimmt ein Ire in mein Banjospiel ein.

»Stanley«, stellt er sich vor. Ich lächle ihm zu.

»The Banjo-man from Germany«, sagt er. Da ist es wieder, dieses Gefühl, den Kopf frei zu haben, für den Moment im Leben, den ich lebe. Wir vergleichen unser Repertoire und spielen einfach drauf los. Und schon nach den ersten beiden Songs bildet sich eine Traube, die Zuhörer klatschen und geben, was sie für angemessen erachten. Stanley kennt sie alle auswendig, die irischen Volkslieder. Selbst als wir gegen Abend in einen der Pubs auf der Hauptstraße umsiedeln, sind sie noch nicht erschöpft. Sicher käme er besser, wenn er ohne mich weiter gezogen wäre. Aber »mit deinem Banjo klingen die Lieder noch ein wenig irischer«, meint er.

Der Besitzer des Pubs lässt uns singen, zweimal eine Stunde lang und dafür spendet er ein Abendessen und so viel Bier, wie wir trinken können. Noch gestern hat mich ein Lehrerehepaar aus Donaueschingen zum Abendessen mit Haferschleimsuppe und Obstsalat eingeladen. Werde ich mit der Zeit verwöhnt. Mir bleiben kaum Minuten, um nachzudenken. Auch Stanley plaudert wie die Anwesenden von Gott und der Welt. Es herrscht eine beruhigende Atmosphäre, kein Fernseher, somit auch keine Politik. Was treibt der Nachbar und ist seine Tochter schon vergeben? Fahren wir morgen nach Waterford oder lieber ins Grüne? Gläser werden gehoben, sie klirren aneinander. Und mir scheint, die Iren leben von und für die Abendstunden. Alle singen, und ich erfahre etwas über das Guinness. Stanley erklärt, es ist das einzige Bier, auf dessen Blume man malen könne und so lange man es trinkt, bliebe das Bild. Ich probiere es.

Am Tisch gegenüber, wir haben uns an die Bar gesetzt, wundert man sich. Glauben sie, ich sei ein ungebildeter Ire? Stanley erzählt einen Witz und die Männer lachen Tränen. Auch Stanley schmunzelt in sich hinein und klopft mir dabei auf meine Schulter.

»Lass uns etwas singen.«

Ich verstehe nichts.

»No, no«, johlen die vier. Im Pub wird es still, kein Glas klirrt, kein Stuhl knackt.

»Sing«, ruft einer der vier. »Einen deutschen Folksong.«

Das ist peinlich, sage ich in Gedanken, eigene Volkslieder? Dutzende Liedtexte strömen in meinen Kopf, mit welchen Zeilen ich ihn belaste, aber deutsche Volkslieder. Ich kenne kaum zwei Strophen. »Kommt ein Vogel geflogen.«

Ich blättere aufgeregt, ohne es mit äußerlich anmerken zu lassen, in meinem Kopftextbuch. Nichts. Sollte ich schnell einen erfinden? Nein, diesen Gedanken verwerfe ich sofort. Ein Deutscher könnte unter den Zuhörern sitzen, zu riskant. Alle sehen auf mich.

Und ich singe: »Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss …«

Sie lauschen dem hellen, harten Klang des Banjos, der Melodie, die den Text erhebt. Sie stampfen mit den Füßen in 4/4-Takt auf den Boden, unterstützen so zusätzlich den Marsch.

Ich glaube kaum, was ich in diesen Momenten erlebe, die Begeisterung, die Zuneigung und Akzeptanz der Menschen prägt ihren einzigartigen Glauben an Gott. Auch Stanley hat das kleine Podest, den Platz neben mir verlassen. Seinen Bewegungen zu urteilen, ist er ebenso zufrieden wie ich.

»… weil, weil, weil und weil, weil ich aus Dresden muss. Drum schlag ich Dresden aus dem Sinn und wende mich Gott weiß, wohin …«, singe ich.

»Sing out with me«, rufe ich dazwischen. »Ich will mein Glück probieren, marschieren …«

Kein Anblick, kann erhabener sein, als für den Augenblick eines Liedes, mit den Menschen glücklich zu sein.

Erst als ich hinaustrete auf die Straße, der kalte Wind mir in die Nase beißt, begreife ich. »Du hast den Leuten zu verstehen gegeben«, sagt Stanley, »das du sie akzeptierst in ihrem Leben, dich für uns Iren interessierst und trotzdem deine Identität und deine Heimat nicht vergisst.«

Dann hängt er sich seine Gitarre über den Rücken und entschwindet im Lampenschein der Straßenlaternen in die Dunkelheit.

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Zu Fuß von Dresden nach Dublin: Leseprobe

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The Vee: eine der schönsten Gebirgsstraßen Irlands

»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

2. Auflage – Mai 2021 – 2. Auflage – ISBN: 978-3-7534-0206-2 – 408 Seiten – 103 s/w Fotografien – 13,90 Euro

»Dein Buch ›Zu Fuß von Dresden nach Dublin‹ kann man nur wärmstens empfehlen …«

(Reiner Meutsch – RPR1 Rheinland – Pfälzische Rundfunk)
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« - 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa
»Zu Fuß von Dresden nach Dublin« – 3100 Kilometer ohne Geld durch Europa (2. Auflage)

3100 Kilometer legte Jan Balster zurück – auf Schusters Rappen, wie man so sagt. Vom Ufer der Elbe bis an den Atlantik, quer durch Westeuropa via Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Irland.
Das Besondere war nicht nur die Art des Reisens, sondern auch die Umstände: Jan Balster hatte keinen Euro in der Tasche.

Sein lebendiger, anschaulicher Bericht aus dem Jahr 1998 über eine ungewöhnliche Entdeckungstour ist mehr als nur Mitteilung über ein Abenteuer. Es ist auch eine überzeugende Einladung, mal über den deutschen Tellerrand zu schauen. Balster ermuntert und ermutigt mit seinem Beispiel, aus dem alltäglichen Trott auszubrechen. Dazu bedarf es keines gefüllten Kontos, sondern nur etwas Mut und Selbstvertrauen. Und Freunde finden sich überall, die einem weiterhelfen.

Der Mann widerlegt zwei Thesen. Erstens, dass man die Taschen voller Geld haben müsse, um die Welt zu entdecken. Und zweitens, dass es Abenteuer nur noch in der Arktis oder in Asien zu erleben gebe. Nein, man kann sie auch im Alten Europa bestehen.

Jan Balster bestätigt aber zugleich auch die These, dass Weltanschauung dadurch entsteht, dass man sich die Welt anschaut und mit Menschen spricht.

Der Mann ist quer durch Westeuropa marschiert. Er traf auf Deutsche, Schweizer, Franzosen, Briten und Iren. Er nächtigte im Straßengraben und auf Campingplätzen, in Obdachlosenasylen und in Jugendherbergen, in Scheunen und in Garagen. Er lebte vom Banjo-Spielen und vom Betteln, er verdiente sich Geld als Fahrradkurier in London und bei Gelegenheitsarbeiten. Er traf auf Hilfe und harte Zurückweisung, auf Zustimmung und auf Ablehnung.

Balster hat alles aufgeschrieben. Ohne Kommentar. Und zeigt, wie nah sich Menschen auf unserem Kontinent sind – und wie fern. Jan Balster kam klüger nach Hause, als er es zuvor war.

Der Leser ist es nach der Lektüre auch.


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