Reisereportage Vietnam: Die gute alte Heimat – Vietnam
Wenn die Kinder in die Städte ziehen, droht das Elend
»Es ist kein Übel Ärger zu begehren, kein Unheil böser als sich Nichtbegnügen, kein Fehler größer als Erwerben wollen. Nur wer sich in Genügsamkeit begnügt, hat stets genug.« (Lao Dse)
Wie lange dauert es, eine Schale mit Reis zu kochen? Die ländliche Kultur der vietnamesischen Reisbauern ist keine heile Welt mehr. Es gibt seit einiger Zeit einen Trend zum städtischen Leben, zum vermeintlichen Luxus. Eine Reise an den Mekong mit starken Eindrücken und elegischen Bildern.
»Es gibt immer zu wenig Land für zu viele, die Reis essen wollen«, behauptet Hùng. Er runzelt seine Stirn, wie immer, wenn er intensiv zurückdenkt. Dann schließt er die Augen, für einen Moment, und als er sie wieder aufschlägt, ist sein Gesicht wie verwandelt. Als sei er weit, weit weg gewesen, um eine vergangene Zeit wieder einzuholen, die ihm unerreichbar scheint, doch glücklich machte.
Lange ist er nicht mehr dort gewesen. Reis wird in Bãi Cháy heute nicht mehr angebaut, lediglich Straßen, an deren Rändern sich Hotel an Hotel, Neubau an Neubau türmen. Investoren überbieten sich in ihren Angeboten. »Vietnam ist ein großer Markt. Wir sind alle potentielle Kunden. Jetzt kommen auch ausländische Touristen in das kleine Mallorca der Chinesen«, meint Hùng, der von 1986 bis 1989 in der DDR Landmaschinenbauer gelernt hatte. Ein wenig hat er noch in Deutschland gearbeitet, dann plagte ihn das Heimweh, und er ging zurück: »Das hat mir gereicht. Hier wird es bald genauso sein wie in Deutschland.« Er spricht fließend deutsch. Er wollte nach Hause, zu seiner Familie, zu seinem Bruder, zu seinen Reisfeldern. Doch nichts ist so, wie er sein Land verlassen hatte. Vietnam hat sich verändert, die Vietnamesen haben sich verändert.
»Kann ich es den Leuten hier verdenken«, gesteht Hùng, »wenn sie aus ihrem Weltwunder Ha-Long-Bucht Kapital schlagen.« Früher, bis 1991 war Bãi Cháy eine Sommerfrische für verdiente Arbeiter, Soldaten und Funktionäre. Ein attraktiver Ort. Heute hat man die Promenaden verbreitert und verlängert, Palmen und Flamboyants gepflanzt, Strände aufgeschüttet, wo einst Fischerboote in den Wellen wiegten, den Touristenhafen an die Peripherie verlegt und den Bauern immer mehr Land abgenommen, um mehr Beton zu pflanzen. Seither lebt Hùng mit seiner Familie nördlich der Kleinstadt Ninh Binh, in der Trockenen-Ha-Long-Bucht – ebenfalls ein Weltwunder.
Familien schließen sich zusammen, um die Reisschüsseln zu füllen
In den Morgenstunden, kurz nach Sonnenaufgang, scheinen alle unterwegs zu sein. Fahrräder in Kolonnen, Marktfrauen und Schulkinder. Schon ein paar Kilometer von Hanoi entfernt, im Delta des Roten Flusses, erstreckt sich das landwirtschaftliche Vietnam. Fleiß, wohin man blickt. Auf den Feldern pflügende Wasserbüffel, Männer und Frauen bei harter Arbeit. Das war schon immer der Mehrwert der Vietnamesen.
Der Nassreisanbau erfordert viel Kooperation innerhalb der Dorfgemeinschaft. Familien müssen sich zusammenschließen, um die Reisschüsseln vieler hungriger Münder füllen zu können. Dabei steht die gemeinsame Bewässerungsanlage im Vordergrund. »Auf den Nachbar muss Verlass sein«, erklärt Hùng leidenschaftlich. »Die Systeme nutzen eine hoch gelegene Quelle, die talwärts ein Feld nach dem anderen speist.« Drei bis fünf Tage nach der Wässerung müssen alle Setzlinge gleichzeitig gepflanzt werden. Da rückt das Interesse der Gruppe gegenüber dem Einzelnen immer in den Vordergrund. Es scheint überlebensnotwendig, Spannungen zwischen den Familien zu vermeiden. »Das ist schon seit dem 11. Jahrhundert so«, sagt Hùng. »Doch die Familien brechen auseinander, wenn sie andere Einnahmequellen erschließen.«
Das Durchschnittseinkommen auf dem Land liegt bei 39 Dollar, in der Stadt bei 100 bis 120 Dollar im Monat. »Extrem arbeitsintensive Zeiten, in denen wir weit mehr Arbeitskräfte benötigen, als uns zur Verfügung stehen, wechseln sich mit Wochen, manchmal Monaten von Untätigkeit ab«, sagt Hùng. Reisanbau ist die ergiebigste aller landwirtschaftlichen Kulturen. Reis ernährt auf einer gleichgroßen Fläche etwa viermal so viele Menschen wie Weizen. Seit 3000 bis 4000 Jahren bauen die Vietnamesen im Delta des Roten Flusses Reis an. Es ist ein ewig gleicher Zyklus von Aussaat, Umpflanzung, Bewässerung und Ernte. Er bestimmt den Lebensrhythmus der Vietnamesen seit Jahrtausenden. Auch das wird sich ändern. »Die Chinesen haben ihn längst, und bald wird auch auf unseren Feldern angepflanzt – der Genreis«, sagt Hùng. Neuartige Reispflanzen sollen gegen Schädlinge, Krankheiten und Trockenheit resistent sein, sie verheißen steigende Ernten und einen sinkenden Pestizidbedarf. Seit 2004 laufen im Süden erste Freilandversuche mit Genreis.
Melancholie liegt über dem Land
Das Wetter ist umgeschlagen. »Es wird regnen«, meint Hùng und weist mit seinen Händen zum späten Nachmittagshimmel hinauf. Ein feiner Schleier aus Melancholie und Erinnerung scheint sich über sein Land gelegt zu haben. Die Sehnsüchte nach der Vergangenheit, die Gier nach der Zukunft – irgendwie wirkt nun auch das Delta des Roten Flusses zerrissen zwischen dem Wunsch, die Geschichte zu konservieren und dem Drang, so sein zu wollen wie andere, vielleicht sogar wie der Süden, wie das Mekong-Delta. Dann wird auch hier die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, und »die Unzufriedenheit wächst stetig an«, stellt er fest.
Tiền, tiền, tiền – Geld ist das magische Wort, das man auf dem Markt, im Bus, auf der Straße, einfach überall hört, das Wort, das den Schlüssel zur Welt der Waren eröffnet, auf die so viele glaubten, gewartet zu haben. Die Menschen reden über dieses Thema, wie über das Wetter. Es ist schier unerschöpflich. »Was hat das gekostet?« oder »Was hast du dafür erhalten?« Seitdem Wohlstand nicht mehr mit Klassenfeind, sondern mit Erfolg gleichgesetzt wird, haben selbst die Kader und Beamten ihre Scheu zu diesem Thema verloren.
Da hat es Nog, Hùngs jüngerer Bruder im Süden etwas leichter. Er hat die Boomstadt Saigon, die seit zehn Jahren für den Tourismus wieder in Mode gekommen ist, ganz in der Nähe. Mit seiner Frau, den drei Kindern und den Schwiegereltern bewohnt er ein bescheidenes Haus, einige Kilometer westlich von Mỹ Tho, am Rande des Mekong.
Das größte und ertragreichste Reisanbaugebiet Vietnams liegt im Mekong-Delta
Das Delta des Mekong ist mit 45000 Quadratkilometern dreimal so groß wie das des Roten Flusses, wird aber mit 17 Millionen von der gleichen Anzahl Menschen bewohnt. Die neun Mündungsarme, Cuu Long, die dieses Delta bilden, sind von zahllosen Flussläufen, Kanälen und Sümpfen durchzogen. Das mit Abstand größte und ertragreichste Reisanbaugebiet Vietnams erschlossen die Vietnamesen erst im 18. und 19. Jahrhundert, kurz bevor die Franzosen sich seiner bemächtigten und anfingen, den Reis in alle Welt zu exportieren. Da wurde sogar eine Eisenbahnstrecke bis Mỹ Tho gebaut. »Die gibt es nicht mehr. Heute bringen wir unsere Waren wieder mit dem LKW oder Schiff nach Saigon«, erzählt Nog.
Noch immer sind die Bauern auf die, überwiegend aus Lehm und Holz gebauten, Wasserwege angewiesen, die in der sommerlichen Regenzeit zeitweise gänzlich zusammenbrechen können. 90% der gesamten Ernteüberschüsse Vietnams erzeugen die Bauern. »Drei Mal kann bei uns im Süden geerntet werden«, erklärt Nog. »Zwei bis drei Monate bleiben für die Überschwemmung. Wenn sie kommt, merken wir das sofort. Dann wechselt der Mekong seine Fließrichtung.«
Soweit das Auge reicht, blickt man auf die Basthüte der Reisbauern in ihren Feldern, auf Bäuerinnen mit reisgefüllten Körben an der Stange über der Schulter. Auf den Bürgersteigen kauern Großmütterchen, ein Radfahrer hat ein Ferkel über den Lenker geschnallt. Kaffeepause wird am Straßenrand gemacht. Die Bauern hier lieben Kaffee, brauen ihn langsam und stark. Man kann zusehen, wie die dickflüssige Masse durch den oben auf das Glas gesetzten Filter quillt, bis sie sich am Boden mit Kondensmilch vermischt. Erst wenn der Genuss des Kaffees beendet ist, kommen die Bauern wieder in Gang, kehren zurück zu ihrer Feldarbeit.
Es gibt auch die Idylle der Reisfelder, schwirrende Libellen und plätschernde Bäche, dazwischen Gräber, in denen die Urahnen ruhen. Reis ist seit eh und je das Herzstück der vietnamesischen Kultur. Der Selbstversorgungsgrad in Sachen Reis liegt bei einhundert Prozent. Reis bestimmt nicht nur den Speisezettel, sondern wird in allen Lebenslagen gebraucht. Mann reicht ihn mit und ohne Salz, gekocht zu jeder Mahlzeit. Locker zu speisen serviert oder klebrig zusammen mit Süßigkeiten oder Suppen. Aber auch flüssig verarbeitet zu Reiswein und gebrannt zu Schnaps. Reisessig gilt als Heilmittel. Auf Reispapier wird auch geschrieben, und Künstler benutzen es für ihre Werke.
Der Internetzugang wird durch einen Fahrradgenerator möglich
Wenn Nog in seinem Dorf wissen will, welcher Preis für seinen Reis in Saigon oder Mỹ Tho auf dem Markt gezahlt wird, erfährt er das heutzutage über das Internet. Dafür braucht er jedoch einen Helfer. »Während ich mich am Bildschirm informiere, tritt einer in die Fahrradpedale und speist damit den Generator, der den Strom für den Computer liefert«, erklärt er stolz. »Eine Minute Fahrrad fahren, erzeugt Strom für ungefähr fünf Minuten.« Das Dorf von Nog verfügt über keine andere Stromquelle und auch über keinen Telefonanschluss. Dafür hängt in den Baumwipfeln eine Antenne, welche die drahtlose Verbindung mit dem World Wide Web herstellt.
Von jedem Hektar eines Reisfeldes können vier bis fünf Tonnen Körner geerntet werden. Bis der Reis herangereift ist, benötigt er Tausende Hektoliter Wasser. Zuerst werden die Sprösslinge zwei Monate in Saatfeldern gezogen, dann in das bewässerte Reisfeld ausgepflanzt. Der Wasserspiegel muss stets möglichst gleich hoch stehen, damit die Sprösslinge weder verfaulen noch vertrocknen. Wenn der Reifeprozess einsetzt, wird das Wasser abgelassen. Danach folgt das Ernsten, Dreschen, Schwingen und Schälen. »Das ist harte Arbeit«, sagt Nog. »Die Spanne zwischen Regen- und Trockenzeit ist die Zeit eine Reisschüssel zu füllen.«
Noch in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts pflegten die Vietnamesen, Glück und Wohlstand an der Menge Reis messen, über die sie verfügten, und ihren Ländereien, die ihnen für den Anbau zur Verfügung standen. Reisbauer zu sein, war eine Lebensweise und zugleich eine Weltanschauung. »Wir leben nach den Lehren des Konfuzius«, betont Nog, »keine Religion, sondern nur der chinesische Einfluss.«
Im kommenden Jahr möchte Nog ein Reisebüro in Saigon eröffnen. »Das bringt mehr ein, und ich muss nicht in der Erde herumbuddeln. Vielleicht finde ich einen Käufer für mein Land. Die Nachbarn haben schon Interesse angemeldet. Doch sie können den Preis nicht zahlen.«
Der Trend ist zum Konsumismus gegangen. »Kader-Kapitalismus plus Bürokratie, der Rest ist Schweigen.« Darüber denkt Hùng im Norden anders: »Wenn das Hồ Chí Minh wüsste. Nach seinem Tod, so verfügte er in seinem Testament, sollte die Regierung den Bauern die Steuern für ein Jahr erlassen. Davon ist nichts gekommen. Gut, es war Krieg im Land.« Heute haben die Bauern keine eigene Krankenversicherung mehr, die staatliche wurde im Zuge der Ðổi Mới, dem Pendant zur sowjetischen Perestroika, abgeschafft und für eine private fehlt ihnen das Geld.
Noch arbeiten viele Vietnamesen auf dem Land, wie ihre Väter und Großväter es getan haben. Es gibt noch keine Resignation unter den Reisebauern. Aber wenn ihre Kinder dem Trend folgen und in die Städte abwandern, um sich den Luxus zu kaufen, dann werden sie wirkliches Elend kennenlernen.
weitere Reiseinformationen zu Vietnam:
- Vietnam – backpacking Reiseführer mit der Eisenbahn durch Vietnam
- Reportagen aus Vietnam (Reisereportagen)
- Vietnam Reiseführer: unterwegs im Mekong Delta
- Vietnam Rundreisen
- Vietnam Abenteuer-Reisen
Vietnam – Reportagen aus dem Land der Drachen und Feen
Oktober 2017 – ISBN: 978-3-7448-1106-4 – 136 Seiten – 27 s/w Fotos – 7,99 Euro
Vietnam, das kleine China im Süden, das ist eine mehr als tausendjährige Geschichte des Kampfes um seine Freiheit. Vietnam ist eine Entdeckungsreise, extrem lang gezogen und gebirgig von den Landesgrenzen Kambodschas und Laos bis zum Südchinesischen Meer. Dazwischen liegt ein ehrgeiziges Land. Ein Volk der Drachen und Feen, wie sich die Vietnamesen gern sehen. Ein Volk mit scheinbar unerschöpflichem Fleiß ausgestattet, aufbegehrend gegen ihre Besatzer, zugleich anschmiegend an ihre Invasoren.
Der Autor nimmt den Leser mit in das Wechselspiel zwischen Ahnenkult, Sozialismus und Globalisierung. Er taucht ein in das harte Leben der Reisbauern, deren Jugend nach westlichen Werten strebt, genießt die herzliche Gemeinschaft des Dorflebens und unternimmt eine Zugreise von Hanoi nach Saigon im Wiedervereinigungs-Express. Er besucht eine der schillerndsten und ungewöhnlichsten Religionsgemeinschaften der Welt, die Cao Ðài, spricht mit Studenten und Professoren, Reisbauern und einer caodaistischen Seherin.
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Sehr ansprechend geschrieben. Herzlichen Dank.
Alles Gute auf Ihren Reisen.
Viele Grüße aus Vietnam
Michael Haas
Vielen Dank, Herr Haas, für Ihre Zeilen. Viele Grüße
Es ist wie in vielen anderen Ländern auch, die Länder verändern sich. Die Jugend zieht in die Städte und das Land wird entvölkert. Es bleiben nur die Alten übrig. Ob in Vietnam, in Russland oder in Nepal. Die Jugend will konsumieren, so sehen sie es im Internet oder im Fernsehen. Der russische Staat gibt nun wohl jedem Zurückkehrer eine großzügige Unterstützung bis hin zu einem Auto. Entwicklungsländer werden sich so etwas nie leisten können.
Hallo Lothar,
vielen Dank für Deine Zeilen. Die Gründe, warum Leute Ihre Heimat verlassen, sind vielschichtig. Das vor allem die Neuen Medien ein Auslöser sind, da gehe ich vollkommen mit. Zumindest liest und hört man dort (auch hier zu Lande) sehr wenig mit dem Kontext – wir / ich bin gescheitert.