Reportage Usbekistan: Zuflucht in einer Diktatur – Machallas in Usbekistan
In den Altstadt-Wohnvierteln der usbekischen Hauptstadt Taschkent weht der Geist vergangener Jahrhunderte
Die Regime kommen und gehen, die „Machallas“ (auch Mahalla, Machala, usb. Mahalla, russ. Махалла) bleiben: Schon seit dem Mittelalter schließen sich in Taschkent Angehörige der gleichen Berufsgruppen zu weitgehend autarken Wohnvierteln zusammen.
»Wo Wissen anfängt, hört Religion auf.«
Mohammed Turgay Ulugh Beg (1394 – 1449)
»Wovon träumen die Völker, wovon die Menschen«, sagt Batyr und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sein Freund Salai lächelt ihm zu und schlägt kraftvoll den Putzhaken in die Wand. Kinder tollen über den Hof. »Batyr. Spiel mit uns«, rufen sie. Auf dieser Baustelle fühlen sie sich wohl. Was gibt es dort nicht alles zu entdecken: Pfützen, Schlamm und viele Kinder.
Batyr, der eigentlich Lehrer ist, kommt jeden zweiten oder dritten Tag in die Altstadt. Hier, um den Basar von Taschkent finden sich Reste des usbekischen Altertums. Das ist ein Wohnviertel, geprägt von exotischen Lehmziegelbauten aus den vergangenen Jahrhunderten. Zwei Meter hohe Mauern schützen die Bewohner vor den neugierigen Blicken der Vorübergehenden. Sie schließen mehrere einstöckige Häuser und deren dazugehörige Höfe ein. Dort, wo sich das Leben abspielt, in denen miteinander verwandte und befreundete Menschen, zu den sogenannten Machallas vereint sind. Machallas sind eine ganz besondere Form der gesellschaftlichen Organisation, eine sehr alte, typisch usbekische Form der Nachbarschaftsgemeinde. »Dieser Ort hat alles überlebt«, sagt Batyr. »Die frühen Plünderungen seiner Eroberer, Dschingis Khan und die Zeit Timur des Lahmen, das schreckliche Erdbeben von 1966 und Stalin.«
300 Machallas zählt Taschkent derzeit. Knapp die Hälfte der Bevölkerung, das heißt eine Millionen Menschen, wohnen hier. Die Gemeinden waren immer die Wächter der usbekischen Tradition, der islamischen Sittlichkeit, auf denen der volkstümliche Sozialismus beruht. Während sich das Leben innerhalb der Machallas gemeinsam abspielt, hat es sich nach außen hin, wieder zum alten gekehrt. Frauen tragen traditionelle Gewänder, bodenlang und farbenfroh. Und die Tschai-Chanes, Teestuben sind nur für Männer zugelassen.
Die Machallas bestehen seit dem Mittelalter
Die Menschen fühlen sich als eine große Familie. Sie unterstützen einander, arbeiten zusammen, wo und wie es ihnen beliebt. »Es ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben«, meint Assan, der Aksakal, den Batyr Onkel nennt. Eigentlich ist er gar nicht sein Onkel. Er stammt nicht einmal von seiner Familie ab. Dennoch gehört er dazu. Irgendwann hatten sich ihre Urahnen zusammengeschlossen, weil sie das gleiche Gewerbe betrieben. Es gibt Machallas der Klempner, Schmiede, Töpfer usw. Sie bestehen seit dem Mittelalter. Und dank der Wohngemeinschaften konnten die Menschen, die mitten in der Stadt leben, den Kontakt zur Natur nicht verlieren. Jeder Hof hat einen kleinen Obst- und Gemüsegarten, jede Familie hält Ziegen und Geflügel, auch wenn sie nicht mehr das traditionelle Gewerbe ihrer Großväter betreiben. Viele sind heute Beamte, Verkäufer oder Lehrer.
Batyr hat sich abgewendet von seiner Arbeit. Ein Ball, getreten von den Kindern, schnellt über den Hof. Batyr hascht ihm hinterher. Und die Kinder feuern ihn an. Davon gibt es viele. Eine Familie hat im Schnitt sechs Kinder, die sich immer unter der Aufsicht der Machallas befinden. Was einen großen Einfluss auf die extrem niedrige Kriminalitätsrate in dem alten Stadtviertel hat. »Durch die Haschar führen wir unsere Jugend an das Arbeitsleben heran«, sagt Batyr. »Wir geben ihnen eine Richtung im Leben.«
Zu Sowjetzeiten hatten auch die Frauen ihre Rechte
Sein Freund Salai, ein Arzt aus Buchara, hat es sich während dessen auf einer Bank bequem eingerichtet. Eine Tasse, gefüllt mit grünem Tee, dampft auf dem Tisch. Assan, der die ganze Zeit das Treiben aus seiner Werkstatt beobachtet hat, kommt hinzu. Seine Frau bringt ihm ebenfalls einen Tee. »Setz dich zu uns«, sagt er. Sie verzieht keinen Ausdruck in ihrem Gesicht und hastet in die Waschküche zurück. »So ist das jetzt immer«, verteidigt Assan. »Solange sie den Fremden nicht kennt, gibt sie sich, wie es die islamische Gesellschaft fordert.« Zu sowjetischen Zeiten war das anders. Da hatten auch die Frauen ihre Rechte. Dafür hat sich seine Mutter geopfert, und seine Frau musste viele Demütigungen ertragen. »Und das, wegen einer Sure«, erklärt Salai. »Dabei ist der Koran gar nicht so frauenfeindlich, wie die Bibel beispielsweise.«
Assan erinnert sich noch genau an den 8. März, den Internationalen Frauentag von 1927. 10000 usbekische Frauen legten damals in Taschkent und noch einmal so viele in Samarkand demonstrativ ihre Schleier ab. »Das war eine kühne Tat«, berichtet er. »Ich bin stolz darauf. Stolz auch sie, die beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben.« Dann verstummt er, verfällt in tiefes Schweigen.
»Er hat viel erlebt«, bestätigt Salai. »Seine Frau konnte er retten. Die Mutter nicht. Sie wurde von einem Verwandten umgebracht.« Der Koran rechtfertigt die »große Schande.« Viele Frauen verloren damals ihr Leben. »Diesen Fortschritt der emanzipierten Frau haben wir den Russen zu verdanken«, erklärt Batyr, der sich inzwischen auch an den Tisch zu einer Tasse Tee gesetzt hat.
Die Bewohner haben sich angepasst, die fortschrittlichen Seiten der neuen Sowjetgesellschaft mit in ihre Gemeinschaft einbezogen. »Und damals wurde auch einiges in andere Ordnungen übernommen«, ergänzt der Lehrer. »Zum Beispiel der Subbotnik.« Eine freiwillige Hilfe beim Bau eines Wohnhauses oder einer Straße, beim Ausheben eines Bewässerungsgrabens oder der Straßenreinigung. Heute nennt sich der Arbeitseinsatz wieder Haschar, doch im Grunde ist es dieselbe Sache. Dessen Aufruf und Organisation wird von einem freiwilligen Komitee, bestehend aus angesehenen Männern, übernommen. »Zu sowjetischen Zeiten waren noch viele Frauen darunter«, meint der Aksakal Assan.
Die Sprecher der Machallas erfüllen in ihrem Viertel die Rolle eines Richters.
Nach Artikel 105 der usbekischen Verfassung haben die Machallas das Recht, über alle Fragen, die in ihre Zuständigkeit fallen, eigenhändig zu befinden. Zu ihrem Sprecher wählen die Bewohner, wie seit Jahrhunderten einen weisen Alten, einen Aksakal, türkisch »weißer Bart«. Er erfüllt im Wohnviertel oft die Funktion eines Richters und Mullahs. Ebenso haben die Bürgerversammlungen das Recht eigene Kandidaten für das Parlament aufzustellen. »Meistens bleibt es dabei auch«, ergänzt Salai. »Die Realität sieht ganz anders aus.« Zwar hat sich der Präsident Karimow anerkennend geäußert: »Die Machallas, das bedeutet Gerechtigkeit!« »Doch das ist nur heiße Luft«, bestätigen die Drei einstimmig. Karimow sei selbst korrupt. Dank seines klugen Kopfes, seiner organisatorischen Fähigkeiten und nicht zuletzt seiner Personallücken, die im Zusammenhang mit der Kampagne gegen die »Baumwollmafia« in der usbekischen Sowjetrepublik entstanden waren, gelangte Islam Karimow in die hohe Parteihierarchie der alten Parteiriege. 1964 trat er in die KPDSU ein, damals war er 24 Jahre alt. 1966 begann er, für das staatliche Komitee für wirtschaftliche Planung zu arbeiten. Gleichzeitig studierte er Volkswirtschaft in Taschkent, wo er promovierte. 1983 wurde Karimow Finanzminister der Usbekischen SSR. Drei Jahre später war er am Ziel, der Stellvertretende des Ministerrates und zugleich Vorsitzender des Komitees für wirtschaftliche Planung.
Am 1. November 1991 wurde die Volksdemokratische Partei Usbekistans, die OXDP gegründet. Die überwiegende Mehrheit stammt aus dem alten Apparat der KPdSU. Als ausgefuchster Apparatschik kannte Karimow alle Intrigen, die in Moskau florierten. Er wurde Vorsitzender dieser Partei und nahm seine Leute mit in die neue Führung. »Er hat in unserem Land seine persönliche Diktatur errichtet«, meint Assan. Zwei Monate vor der Gründung rief Karimow auf einer außerordentlichen Sitzung des Obersten Sowjets die staatliche Unabhängigkeit aus. »Die Worte des selbst ernannten obersten Führers versetzten die Menschen in seelische Verwirrung«, erklärt Batyr. »Erst im März, fünf Monate zuvor hatten bei dem UdSSR-Referendum 93 Prozent aller Usbeken für den Erhalt der Sowjetunion gestimmt. Solch eine Wahlbeteiligung hat es hier noch nie gegeben. Präsident Karimow hatte damals selbst dafür geworben.«
Es ist eine Schande für jeden Usbeken, die Alten dem Staat zu überlassen
»Nicht nur in der damaligen Regierung«, bestätigt Salai, »hat es Veruntreuung von staatlichen Geldern und Vetternwirtschaft gegeben. Und es stimmt übrigens nicht, was die Leute sagen, wir seien von der Sowjetunion einverleibt und unterdrückt, zur Unselbstständigkeit gezwungen worden.« Schon in Artikel 17 der Verfassung der UdSSR war seit 1922 verankert: »Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.«
»Eigentlich ist Politik tabu«, sagt Batyr. Das bemerkt der Fremde, wenn er in einem der zahlreichen Tschai-Chanes zu Gast ist. »Wir wissen nicht, was die Zukunft der Machallas bringen wird. Allah weiß es. Man muss abwarten und Tee trinken«, ist die häufigste Antwort. Fragen dergleichen werden höflich, aber bestimmend erdrückt. »Vielleicht weiß man im Rathaus mehr darüber«, hört man. Unbedingt dürfen die guten Traditionen der Usbeken, wie sie in den Machallas zu finden sind, nicht dem technischen Fortschritt zum Opfer fallen.
Die Wohngemeinschaft betreut ihre kranken und unterbemittelten Mitglieder, erzieht die Kinder gemeinsam und ersetzt staatliche Institutionen wie Kindergarten und Sozialversicherung. »Unter den Usbeken sind die europäischen Einrichtungen wie Senioren- und Pflegeheime völlig unbekannt«, sagt Batyr. »Unsere Eltern bleiben bis zum Tod in unserer Mitte.« Es ist eine Schande für jeden Usbeken, betagte Mütter oder Väter dem Staat zu Pflege zu übergeben. Sie schätzen ihre Alten, ihr Wort wiegt mehr als die oft stürmischen Sätze der Jugend, selbst wenn diese in der Mehrzahl auftreten. Und das ist häufig in diesem Land.
Und als es Abend wird, Batyr und Salai die Kelle und den Hammer in die Budde werfen, findet auch die Frau des Aksakals Vertrauen zu dem fremden Besucher. In sich gekehrt sitzt er da, denkt an das herzliche Leben innerhalb dieser Machalla, an die Weisheit Assans, des Aksakals und das umständliche Europa. Belehrt wurde er nicht, nein. Jahrelang hat sich Batyr mit der usbekischen Geschichte befasst. »Die Machallas«, stellt er fest, »sind für mich die zukunftsträchtigste Lebensform in Usbekistan.«
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»Usbekistan« – Reportagen aus dem Land der Märchen (2. Auflage)
November 2019 – 2. erweiterte Auflage, ISBN: 978-3-7494-9862-8 – 136 Seiten – 57 s/w Fotos – 8,99 Euro
Wenn wir in westeuropäischen Medien über Usbekistan referieren, beschränken wir uns all zu oft auf das Sterben des Aralsees. Wir sprechen von Gas-, Gold- und Ölvorkommen. Dort gedeihen Baumwolle und wird Uran gefördert. Es wimmelt an Geld. Doch Usbekistan ist mehr als eine Abschussrampe von kriegsfördernden Gerätschaften nach Afghanistan. Usbekistan beherbergt mehr als die hübschesten Städte der Seidenstraße: Samarkand, Buchara und Chiwa. Alles mag klingen wie in den Erzählungen aus Tausend und einer Nacht. Usbekistan ist jung, ist modern geworden. Hier leben Menschen. Sie haben ihre Vergangenheit, ihre Träume und ihre Liebe. Sie haben etwas zu sagen, zu berichten, zu erzählen… wovon wir etwas lernen dürfen.
Aus einer Periode des radikalen Umbruchs, einer Unsicherheit haben die Menschen eine Sicherheit gefunden, haben sich wieder eingerichtet, haben es sich gemütlich gemacht. Sie kämpfen mit einem Erbe, welches ihr Leben bestimmte, ebenso mit ungeklärten Grenzen und den Verzerrungen ihrer ureigensten Traditionen. Da ist es, ein Leben voller alter und neuer Schwierigkeiten und Hoffnungen.
So habe ich beschlossen, weder arrogant noch ablehnend noch wohlwollend zu sein. Ich hoffe, es ist mir geglückt, ein paar ehrliche Reportagen vorzulegen. Reportagen ohne Kommentar über Dinge, welche ich nur vom Hörensagen kenne. Ich weiß, es gibt vieles, was ich nicht verstehe, was ich nicht mag oder mir unangenehm ist. Doch trifft dies nicht immer auf fremde Länder zu? Deshalb handeln die Reportagen schlicht von dem, was mir begegnete. Es ist nicht die usbekische Geschichte schlechthin, sondern es sind ein paar usbekische Geschichten.
Und so hörte ich die usbekischen Aksakale sagen: »Um besser zu sehen, besteige die Berge; bewunderst du die Platane, so verneige dich vor ihren Wurzeln.« Wollen wir es ihnen gleich tun, betreten, begegnen wir Usbekistan, verneigen wir uns vor ihren Menschen.
enthaltene Reportagen
- Zwei Männer aus Taschkent – Mit dem Kasachstan-Express von Taschkent an die Wolga
- Die Seidenweberinnen – In der Machalla der Teppich- und Seidenweber von Buchara
- Sand, Wasser und das Trampeltier – Kamelzüchter am Aralsee
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- Durst – Unter Opiumhändlern durch die Wüste Karakum zwischen Turkmenistan und Usbekistan
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