Die murmelnden Mönche
Russland – Burjatien: Zu Besuch im russischen Lamakloster Ivolginsk
Burjatien – Knapp 40 Kilometer westlich von Ulan-Ude, an den Ausläufern des Chamar-Daban-Gebirges erhebt sich das zentrale Heiligtum des Buddhismus in Russland: das Lamakloster Iwolginsk (Иволгинский дацан «Хамбын Хурэ»). Der Buddhismus ist in Russland eine vergleichsweise junge Erscheinung, in der Baikalregion hat er fast gleichzeitig mit dem Christentum Einzug gehalten, vor etwa 250 Jahren.
Der Buddhismus ist in Russland eine vergleichsweise junge Erscheinung. In der Baikalregion hat er fast gleichzeitig mit dem Christentum Einzug gehalten, vor 250 Jahren im 18. Jahrhundert.
Früh am Morgen, die junge Frau an der Hotelrezeption wiegt sich noch im Schlaf, nehme ich den ersten Bus, Linie 104, von Ulan-Udé, der Hauptstadt der Republik Burjatien, über die holprige Landstraße. Landarbeiter steigen zu, beladen mit ihren Hacken und Schaufeln, quetschen sie sich auf die Sitzbänke im Bus. Es riecht nach Tabak und Käse. Ruhe. Nur das Heulen des Motors ist zu hören.
Knapp 40 km westlich von Ulan-Udé, an den Ausläufern des Chamar-Daban-Gebirges erhebt sich das zentrale Heiligtum des Buddhismus in Russland, das Lamakloster Ivolginsk.
Schon von weitem ist es, 1945 mit dem Segen Stalins neu gegründet, als ungewöhnliches Bauwerk zu erkennen. Eine bunte exotische Insel im flimmernden Licht der eintönig grauen Ebene. Hinter dem hohen hölzernen Palisadenzaun ragen geschwungene rot gelbe Pagodendächer hervor. Rund um den Haupttempel, kleine Bethäuser und ein hölzernes Schulhaus, Sauna, Bibliothek, dazwischen die Wohnhäuser der Mönche, einige sind verbunden durch Leinen, auf denen farbenfrohe Wäsche flattert. Etwas abseits, für den Besucher nicht sofort zu erkennen, sitzen zwei Frauen mit ihren Kindern daneben. Zu sowjetischen Zeiten durften die Mönche heiraten, so erfahre ich auf meine vorsichtige Frage hin. Die Ehen haben weiterhin Bestand, auch nach der politischen Wende. Neue dürfen nicht mehr geschlossen werden, denn seit 1991 gilt für die Mönche wieder das Zölibat.
Die Frauen der Mönche
Das ist nicht die einzige Besonderheit, welche es nirgends sonst auf der Welt gibt. »Dort ist unser Wunder«, sagt die Burjatin: »in diesem Sarkophag.« In ihm wird der Leichnam des 12. Pandido-Hambo-Lamas Daschi-Dorscho Itigelow aufbewahrt. »Als Itigelow im Alter von 75 Jahren 1927 starb«, erklärt sie: »wies er seine Jünger an, seinen Körper in 30 Jahren in Augenschein zu nehmen.« 1955 und 1973 fandeChamarn wenige Eingeweihte den Körper ohne Verwesungsspuren vor. »Vergangenes Jahr wurde der Sarkophag erneut geöffnet. Da wurde auch entschieden, ihn hier aufzubahren.« Noch immer befindet sich der Verstorbene in der Lotos-Position. Und so ist er auch zu besichtigen, seit der zweite Tempelbau zu seinen Ehren 2008 fertiggestellt wurde.
»Schauen sie sich alles nur genau an«, betont die Burjatin, nicht aufdringlich, eher schüchtern: »Vielleicht können Sie etwas lernen.« Sie führt mich in einen anderen Raum, klein und niedrig, vollgestopft mit Büchern, Buddhafiguren und Kerzen, Teppichen an den Wänden und allerlei Trinkschalen und Gebetstrommeln. »Das meiste sind Geschenke an unser Kloster«, erklärt sie abwinkend: »Die wertvollen Bände, unter anderem eine Ausgabe des Ganjur, des buddhistischen Testamentes in 108 Teilen und die dazugehörigen Danjur, die Kommentare, stehen in der Bibliothek.«
Ich frage nach einem Foto. Natürlich, wenn ich mich beeilen würde und jetzt, um diese frühe Stunde sieht es niemand. Das bleibt aber eine Ausnahme, weil ich aus dem westlichen Ausland komme.
Draußen knarren Gebetsmühlen und an den weiß getünchten, pyramidenartigen Kultstätten, den Stupa, verbeugen sich die Gläubigen und berühren sie mit der Stirn, den Lippen oder den Händen. Sie stehen erhöht, dem Buddha näher.
Buddhistischer Glaube
Um 8 Uhr im Haupttempel, bewacht von zwei gelb schwarzen Tigern aus Stein, beginnt das Morgengebet. In der Mitte des Tempels haben etwa fünfzig Mönche und Klosterschüler, alle in ihre Gewänder unterschiedlicher Farben, rot, blau und orange dominieren, Platz genommen. Sie hocken aneinander auf langen Bänken in Dreierreihen. Vor ihnen stehen niedrige Tischchen, auf denen sie Papierrollen mit Gebetstexten ausbreiteten. An der Stirnseite vor einem prachtvollen Thron hängt ein großes Ölbild, ein Porträt des Dalai Lama, der Ivolginsk 1991 und 1993 besuchte. Der Gottesdienst selbst wird in tibetischer Sprache abgehalten und erschien mir, dem Religionsfremden als ein stetig an- und abschwellendes Gemurmel, unterbrochen von zuweilen sanft, zuweilen heftig bis gewitterartigen Akzenten, wofür die verschiedenen Gongs, Becken und Glocken eingesetzt werden.
In der ersten kurzen Pause reicht der Zydyp-Lama den Mönchen heißen Tee mit Zuckerstückchen und eine Scheibe Brot. Zwei junge Mönche werfen sich ehrfurchtsvoll zu Boden, richten sich wieder auf und wiederholen die Zeremonie, immer auf den Großen Buddha blickend. Ich bewege mich gemäß des buddhistischen Glaubens im Uhrzeigersinn zum Ausgang hin. Vorbei am Hinweisschild: »Achten Sie den buddhistischen Glauben, wenn Sie diese Tempelanlage besichtigen“, in russisch, mongolisch und englisch, darunter kann ich lesen: »200 Rubel für zwei Fotos, 500 Rubel für fünf Fotos.« Und noch bevor ich die Treppe ins freie hinabsteigen kann, spricht mich ein alter in einen roten Umhang gehüllter, kahl geschorener Mönch darauf hin an: »Fotoerlaubnis!?« Ich zucke mit den Schultern.
»Zeiten haben sich geändert«
Wieder ruft mich die Burjatin herüber: »Nehmen Sie es ihm nicht übel… bis zum Tauwetter Gorbatschows ging es uns schlecht«, meint sie, bis dahin war die Verbreitung buddhistischer Schriften und die Ausbildung junger Priester verboten. Diese wurden in der Mongolei unterrichtet. Heute leben mit den 50 Mönchen, sowie der Hambo-Lama, der oberste Lama Russlands, zwanzig Eleven, die an der klostereigenen Schule zu Priestern reifen werden. »Die Zeiten haben sich geändert«, erzählt ein zehnjähriger Eleve: »Wir dürfen heute sogar nach Indien, Thailand und den Burma reisen, um uns zu vervollkommnen.«
Der Tag begann. Noch einmal erinnert mich der alte Mönch daran, eine Spende an der Tempelkasse einzuzahlen, gleich ob Dollar oder Rubel, gegen Quittung obligatorisch. Ich verlasse die Klosteranlage. Verkaufsstände werden aufgebaut und das kleine Gasthaus gegenüber des Nebentores am Buswendeplatz eröffnet. Mönche kommen aus dem Tor, gehen geradewegs zum Gasthaus, kehren zurück, vorsichtshalber mit einer Flasche Markencola unter ihrem Arm und verschwinden wieder. Dann kommt der Bus. Zurück nach Ulan-Udé.
Worterklärungen:
Bogd-Gegeen: »Heiliger Erleuchteter«, Bezeichnung des lamaistischen Kirchenoberhauptes.
Bogd-Khan, Bogdo-Khan: in den Jahren 1911 bis 1921 Titel des Bogd-Gegeen (s. d.) in seiner Eigenschaft als Oberhaupt von Mongolen-Staat und lamaistischer Kirche. Mit Bildung der Volksregierung wurde die Mongolei in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt und die Rechte des Bogd-Khan danach auf das des Kirchenoberhauptes beschränkt. Nach seinem Tod 1924 (letzter Bogd-Khan: Ngawang Lobsang Chökyi Nyima Tendzin Wangchug, mong. Агван лувсан чойжинн ямданзан ванчүг) wurde kein neuer Bogd-Khan gewählt und das Land zur Mongolischen Volksrepublik erklärt.
Hambo Lama Daschi-Dorscho Itigelow (russisch Даши-Доржо Итигэлов, * 1852; † 1927): Itigelow war ein Pandito Hambo Lama, also geistliches Oberhaupt der Buddhisten Burjatiens.
Hambo Lama (russ./ burjatisch: Хамбо-лама, mong. хамба лам): Oberhaupt der russischen Buddhisten, ähnlich Bogd-Gegeen (s. d.)
Lama (mong. Лам, tibet. bla-ma): buddhistischer Mönch, eigtl. »hoher Priester«
Lamaismus: Vajrayāna-Buddhismus tibetischer Prägung. Der Name ist abgeleitet von der übertragenen Rolle des Lama als unabdingbarer geistiger Führer. Die Grundthesen des Buddhismus werden durch den Lamaismus nicht angetastet, jedoch passt er sich in seiner Gesamtheit den herrschenden Verhältnissen an. Die lamaistische Kirche erklärt und rechtfertigt alle Privilegien der jeweils herrschenden Klasse, dies bestätigt ihre Inkarnationslehre. Im höchsten Stadium ist der Bogd-Khan (s. d.) Staatslenker, Kirchenoberhaupt und mächtigster Heerführer in einer Person. 1921 gab es auf dem Territorium der heutigen Mongolei 2565 Klöster mit 105577 Lamas, dazu kamen ebenso viele Leibeigene – zusammen etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung.
mehr zum Thema Buddhismus in Russland
- Organisation der russischen Buddhisten (russ., teilweise engl.)
- The Buddhist Channel: Pilgrims Flock to Buddhist Center to See Their Lama (engl.)
- Buddhismus in Russland – Burjatien (Sibirien)
- Institut Hambo Lama Itigelow (Институт Хамбо Ламы Итигэлова) gemeinnützige Organisation zur Pflege des Erbes von Itigelow (russ., engl., franz.)
- Stiftung zur Erhaltung der tibetischen buddhistischen kulturellen und philosophischen Traditionen (Центр тибетской культуры и информации) (russ.)
- Gesellschaft der buddhistisch traditionellen Sangha Russlands (Буддийская традиционная Сангха России) (russ.)
mehr zum Thema Russland / Sibirien und Baikalsee
- Reiseführer Russland: Burjatien – Lamakloster Iwolginsk in Sibirien
- Tourismus Portal Baikalsee (russisch)
- Baikal Information (russisch)
- mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Teil 3): östlicher Baikal, Anreise
- Transsib: Russland – Transsibirische Eisenbahn
- Backpacking & Reiseinformationen für Russland von A bis J (Teil 1)
- Backpacking & Reiseinformationen für Russland von K bis Z (Teil 2)
- Visum für Russland – Einreisebestimmungen und Beantragung
- Übersicht backpacking Reiseführer Russland: Transsibirische Eisenbahn, Baikal …
- Reisereportagen Russland & Transsibirische Eisenbahn
Karten und Reiseführer für Russland
- Heike Mall und Roger Just; Baikalsee: Handbuch für Reisen in die Baikalregion, Vorauflagen bei Reise-Know-How Verlag erschienen jetzt BoD, 2017, sehr gut recherchierter Reiseführer (bei amazon ansehen)
- weitere Sibirien Reiseführer bei amazon ansehen
Rundreisen / Flüge nach Russland
- Flüge nach Russland
- Russland Urlaub (DERTOUR.DE)
- Rundreisen Russland (Djoser Reisen DE)
- Transsibirische Eisenbahn (Transsib Reisen – Djoser Reisen DE)
- Russland Reisen (Gebeco.de)
»Sibirien« – Reportagen aus Russland, dem Land der Sagen
November 2013 – ISBN: 978-3-7322-8689-8 – 120 Seiten – 41 s/w Fotos – 9,99 Euro
Wir kennen Kolumbus. Doch wissen wir etwas über Jermak, den Entdecker Sibiriens. Dabei ist dieser Landstrich größer als Amerika.
Ab nach Sibirien, da ist es kalt: undurchdringlicher Urwald, eintönige Tundra, Dauerfrostböden, der Kältepol. Klischees über Klischees, Legenden und Sagen durchziehen unser Wissen, nähren unsere Ahnung. Doch Sibirien heißt, wenn man es aus der Sprache der alten Nomadenvölker übersetzt, nichts weiter als schlafende Erde.
Wagen wir den Weg, benutzen wir die Schneise, welche uns die Transsibirischen Eisenbahn nach Osten vorgibt, bis in den letzten Winkel. Begleiten wir Eisenbahner der Fernostbahn, stoßen wir zu den Wölfen im Baikal-Lena-Naturreservat vor und tauchen ein in die Religion des Lamaismus im Kloster Ivolginsk.
Entdecken wir Sibirien. Es ist warm, schön, herrlich wie am ersten Tag.
4 thoughts on “Reisereportage Russland: Die murmelnden Mönche”